Hallo Frau Stögbauer, könnten Sie sich und den AWO Drachenhort bitte in ein paar Sätzen kurz vorstellen:

Mein Name ist Annina Stögbauer und der AWO Drachenhort ist ein integrativer Hort, in dem 55 Kinder betreut werden. Bis zu einem Drittel der Kinder haben einen besonderen Förderbedarf.

Wo und wann haben Sie persönlich das erste Mal bewusst Demokratie erlebt?

Unter den einzelnen Mitarbeitern unserer Einrichtung gibt es unterschiedliche Demokratie-Erfahrungen. Neben einer bei vielen vorhandenen ersten direkten Demokratie-Erfahrung mit der Wahl eines Klassensprechers in der Schule oder privatem Engagement in ehrenamtlichen Tätigkeiten, manifestiert sich eine gemeinsame Demokratie-Erfahrung nicht zuletzt in den Werten Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit und dem Leitsatz "demokratisches und soziales Denken und Handeln zu fördern" unseres Trägers der Arbeiterwohlfahrt.

Was motiviert Sie, sich für mehr demokratische Beteiligung einzusetzen?

Populisten und Rechtsextreme gewinnen zunehmend Boden und Akzeptanz, auch in der Mitte der Gesellschaft. Einfache Lösungen sind jedoch keine Antwort auf die vielfältigen Probleme und Herausforderungen in unserer Gesellschaft. Ein breit angelegter demokratischer Diskurs kann dem entgegenwirken. Als integrativer Hort mit Kindern aus unterschiedlichen Kulturen, Lebenslagen, Sozioökonomischen Status und mit Förderbedarf, finden wir es besonders wichtig frühzeitig demokratische Prinzipien und Beteiligungsmöglichkeiten zu vermitteln. Wir möchten in unserem Hort die Diversität fördern, an die Ressourcen der Kinder und Familie anknüpfen und durch die Vermittlung von Demokratie die Kinder in ihrer Resilienzfähigkeit stärken, sowie die Teilhabechance am gesellschaftlichen Leben aufzeigen.

Was bedeutet für Sie Demokratie? Wie definieren Sie Demokratie?

Demokratie wird oft als selbstverständlich empfunden, aber gerade in Krisen oder belastenden Zeiten zeigt sich, dass Demokratie jeden Tag aufs neue gelebt werden muss. Demokratie lebt vom ständigen Dialog, dem Austausch und der Anerkennung von verschiedenen Meinungen. Vorstellungen für ein Zusammenleben werden gemeinsam definiert, diskutiert und beschlossen. Demokratie ist nicht nur das Wahlrecht Vertreter bestimmen zu können, sondern findet vielmehr auch in den "kleinen" alltäglichen Entscheidungen statt. Als Mitglied einer Gesellschaft ist es wichtig sich zu engagieren, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, solidarisch zu sein und allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft oder Beeinträchtigung Teilhabe zu ermöglichen. Demokratie bietet die Chance, dass Menschen ihr Leben gestalten können und nicht das Gefühl haben, hilflos ausgeliefert zu sein. Sie erfahren sich selbst als Handelnden.

Welche Rolle spielen Kindergärten in der Demokratie? Welchen Platz nehmen sie ein?

Kindertagesstätten sind die "Keimzellen" der Demokratie. Im Alltag können die Kinder demokratische Strukturen und Handeln erfahren. Sie erlernen, dass Demokratie nicht gelernt werden kann, sondern gelebt wird. Demokratie heißt für alle Beteiligten, dass sie ausprobiert, verhandelt, diskutiert, erarbeitet und nach gemeinsamen Lösungen gesucht werden muss. Die Demokratie lebt durch Beteiligung und Erfahrungswerte. Die Kindertagesstätten nehmen damit eine zentrale Rolle als ersten Erfahrungsort von demokratischen Prozessen und Beteiligungsmöglichkeiten ein und leisten einen großen Beitrag für die Förderung der Gesellschaft.

Wie wird bei Ihnen Partizipation / Beteiligung gelebt? Wie werden die Kinder, Erzieher:innen und Eltern mit einbezogen?

Eine eigene Verfassung wurde erstellt, in der das Beteiligungsverfahren und Schwerpunkte schriftlich festgelegt wurde. Diese Verfassung wurde auch in Bilderform mit den Kindern erstellt. Es gibt folgende Möglichkeiten:

  • Projektbezogenen Partizipation: Die Kinder planen den Ablauf eines Festes, suchen die Lieder aus, Raumgestaltung, planen die Ausflüge
  • Offene Partizipation: Die Kinderkonferenz (Kiko)in der Gruppe
  • Repräsentative Partizipation: Das Drachenparlament, d. h. 2 Vertreter aus den Gruppen werden nach den Wahlgrundsätzen gewählt und besprechen, stimmen über gruppenübergreifende Themen ab oder bringen die Ergebnisse wieder zurück in die Gruppen
  • Beschwerdemanagement und Fragebögen für die Kinder: Ein Briefkasten und Formulare für anonyme Beschwerden, Wünsche und Anregungen der Kinder im Foyer, der wöchentlich geleert wird; die Beschwerden werden in den Teamsitzungen bearbeitet und in den Kikos zurückgemeldet oder an der Kinder-Info-Tafel ausgehängt
  • Beschwerdemanagement für die Eltern: Ein Briefkasten und Formulare im Eingangsbereich, sowie ein Briefkasten für Anregungen an den Elternbeirat stehen zur Verfügung.
  • Für die Eltern liegt die Demokratie-Verfassung zur Ansicht aus.

Welchen Effekt hatte die Einbeziehung der Kinder, Erzieher:innen und Eltern auf Ihre Einrichtung bisher?

Die Kinder erfahren sich als selbstwirksam, d. h. sie erleben sich als aktive Gestalter und Handlende, da sie auf Inhalte und Abläufe Einfluss nehmen können.
Soziale und kommunikative Kompetenzen werden erworben. Die Kinder entwickeln eine Gesprächs- und Konfliktkultur: abwarten und zuhören können, einander aussprechen lassen; eigene Standpunkte und Sichtweisen äußern, begründen und vor den anderen vertreten; die Sichtweise und Meinung der anderen wahrnehmen und respektieren; Kompromisse eingehen und aushalten zu können, wenn das eigene Interesse sich nicht durchgesetzt hat und die Mehrheit anders entscheidet -> Die Kinder übernehmen Verantwortung für ihre Entscheidungen und fühlen sich für die Gemeinschaft zuständig.
Durch unser Wahlverfahren mit Verfassung, Gremien (Kiko, Parlament), Aushängen, Ausweis und "Abstimmungssteine" machen die Kinder Erfahrungen mit demokratischen Strukturen.
Die Erzieher nehmen die Perspektive der Kinder ein und die eigene Rolle wird öfter reflektiert. Die individuellen Bedürfnisse und Interessen werden deutlicher wahrgenommen. Die Eltern geben positive Rückmeldung, dass die Kinder zuhause ihre eigene Meinung selbstbewusster vertreten und sich insgesamt mehr zutrauen.

Wie sähe idealerweise ein demokratisch / partizipativ strukturierter Kindergarten aus?

Die ideale Kindertagesstätte wäre auch in ihrem Stadtteil demokratisch/partizipativ eingebunden. Kinder würden bei der Planung/Veränderungen von Einrichtungen mit einbezogen werden oder zu ihren Bedürfnissen in der Stadt oder dem Stadtteil befragt werden. Ebenso sollten die Einrichtungen konkret bei Themen mit Viertel mitentscheiden dürfen, um eine Verknüpfung der demokratischen Lernerfahrungen innerhalb der Einrichtung mit der Gesellschaft herzustellen. Es gäbe viele Möglichkeiten mit den Kindern Amtsträger in der Stadt oder im Stadtviertel kennenzulernen und zu kooperieren, z. B. Besuch beim Bürgermeister oder Teilnahme an einer Stadtratssitzung.

Wie begeistern Sie Menschen für demokratische Werte? Wie fördern Sie Partizipation?

Unser Grundsatz ist, dass jedes Kind bei uns so sein darf, wie es ist. Uns ist wichtig die Vielfalt wertzuschätzen und den Kindern die Anerkennung der Vielfalt als Bereicherung näher zu bringen. Durch gelebte Mitwirkung, Selbstbestimmung und Mitbestimmung möchten wir den Kindern die Teilhabe an der Gesellschaft vermitteln und mit Spiel und Spaß näher bringen. Wir versuchen die Kinder im alltäglichen Geschehen so viel wie möglich mitentscheiden zu lassen und situativ auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Partizipation hat einen hohen Stellenwert in unserem integrativen Hort und wird alltäglich gelebt.

Wenn es ein allgemeines Demokratisches Manifest geben würde, welche drei Punkte sollten unbedingt enthalten sein und was sollte auf keinem Fall drinstehen?

  1. Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte, vor allem der Kinderrechte
  2. Recht auf Teilhabe und Barrierefreier Zugang auf allen Ebenen
  3. Recht auf Bildung und Unterstützung

Zusammenfassend: Was ist Ihr Statement zur Demokratie und Partizipation?

Demokratie ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern die größte Anerkennung von Vielfalt und Diversität. Dies ist nicht immer einfach und herausfordernd, aber lohnenswert für uns und die zukünftigen Generationen.