Hallo Herr Hartmann, könnten Sie sich bitte in ein paar Sätzen kurz vorstellen:

Mein Name ist Herr Florian Hartmann und 2014 sowie 2020 haben mir die Dachauer Bürgerinnen und Bürger die schönste Aufgabe der Welt erteilt: Nämlich Oberbürgermeister meiner Heimatstadt zu sein.

Wo und wann haben Sie persönlich das erste Mal bewusst Demokratie erlebt?

Erfahrungen mit Demokratie habe ich schon ziemlich früh gemacht: Bevor ich mit Anfang 20 in den Stadtrat gewählt wurde, habe ich mich im Dachauer Jugendrat engagiert. Ich habe mich schon immer für demokratische Prozesse interessiert und hatte früh den Willen, mich für meine Überzeugungen und für andere Menschen einzusetzen.

Was motiviert Sie, sich mehr für demokratische Beteiligung einzusetzen?

Das ist zum einen vor allem unsere Geschichte, die uns lehrt, wie schnell Demokratie erodieren kann, wenn man sich nicht für sie einsetzt. Wir leben in einer Zeit, in der Geschichtsvergessenheit, Beschönigungen und immer öfter auch tätliche Angriffe die Demokratie gefährden, in Deutschland ebenso wie weltweit. In Deutschland rufen Rechtsextreme "Wir sind das Volk". Extremisten stürmten im vergangenen Sommer die Treppe zum Bundestag. Demokratiefeindliche Abgeordnete schleusten später Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme in den Bundestag, die Abgeordnete bedrängten. In Hongkong wurde die Demokratie praktisch abgeschafft. In den USA geriet mit der Erstürmung des Kapitols eines der ältesten demokratischen Systeme ins Wanken. In Myanmar putschte das Militär. In vielen Ländern der Welt schleifen die Regierenden demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien. Wer die Demokratie nicht gegen ihre Feinde verteidigt, weiht sie dem Untergang.
Außerdem ziehe ich meine Motivation, mich für die Demokratie einzusetzen aus meiner täglichen praktischen Erfahrung, dass sie funktioniert.

Was bedeutet für Sie Demokratie? Wie definieren Sie Demokratie?

Eine Minimaldefinition von Demokratie ist ja: Demokratie ist dort, wo sich Mehrheiten friedlich an der Macht ablösen. Aber das ist mir nicht genug. Demokratie beruht für mich auf mehreren Prinzipien. Zum Beispiel Minderheitenschutz. Eine Mehrheit darf nicht willkürlich über eine Minderheit bestimmen. Unser Grundgesetz mit seinem Grundrechtskatalog bildet da einen guten Rahmen für mein Demokratieverständnis. Demokratie ist für mich auch: Achtung der Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Freizügigkeit, Berufsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, kurz gesagt: alle bei uns im Grundgesetz verankerten Grundrechte. Und ganz wichtig: Das Rechtsstaatsprinzip, also das Recht eines jeden, juristisch gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen, selbst wenn diese vom Staat kommen.

Foto Florian Göttler, Oberbürgermeister F. Hartmann bei der Bürgerbeteiligung Augustenfeld Mitte im November 2015

Was sind Ihre zentralen Aufgaben als Bürgermeister:in? Welche demokratische Verantwortung ist mit ihrem Amt verbunden?

Als Oberbürgermeister bin ich zum einen Chef der Stadtverwaltung. Das ist salopp formuliert der undemokratische Teil meiner Aufgabe, weil eine Verwaltung ja hierarchisch strukturiert ist. Aber ich glaube, dass ich keinen besonders hierarchischen Führungsstil habe, eher einen kollegialen. Auf der Verwaltungsseite kümmere ich mich zusammen mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um das so genannte laufende Geschäft. Vereinfacht gesagt: Wir schauen, dass der Laden läuft.
Und dann gibt es noch meine Arbeit im Stadtrat und in den Stadtratsausschüssen. Das ist Demokratie pur. Dort diskutieren wir über Anträge und Projekte, und dann wird klassisch abgestimmt. Und was die Mehrheit entscheidet, wird gemacht. Meine demokratische Verantwortung ist hier zum einen die Sitzungsleitung. Und zusammen mit Unterstützung meiner Kolleginnen und Kollegen der Verwaltung achte ich darauf, dass auch alles rechtens ist, was im Stadtrat beschlossen wird. Demokratie bedarf Regeln, und die müssen eingehalten werden. Ein sehr theoretisches Beispiel: Der Stadtrat beschließt mehrheitlich, dass das Dachauer Schloss abgerissen wird. Dann ist es meine Aufgabe, zu sagen: Darüber stimmen wir nicht ab, weil wir erstens nicht zuständig sind, zweitens uns das Schloss nicht gehört und es drittens ein Verstoß gegen den Denkmalschutz wäre.

Wie erreichen Sie die Bürger:innen und wie können sie in Zukunft alle Bürger:innen erreichen? Wie beziehen Sie die Bürger:innen in Entscheidungen mit ein?

Ich erreiche die Bürgerinnen und Bürger über viele Kanäle: Facebook, Instagram, die städtische Website, unser Bürgermagazin, unsere Bürgerversammlungen, Pressemitteilungen. Und vor allem: über den direkten Kontakt mit ihnen. In der Zeit vor Corona war ich jedes Jahr auf hunderten Terminen und Veranstaltungen und dort direkt für die Bürgerinnen und Bürger ansprechbar. Ich bin recht kontaktfreudig, und ich glaube, das merken die Bürgerinnen und Bürger und sprechen mich einfach an, wenn sie ein Anliegen haben. Man kann auch einfach bei mir anrufen oder eine E-Mail schreiben oder einen klassischen Brief. Oder wenn es vor Ort ein konkretes Problem gibt, dann mache ich eine Ortsbegehung mit den Anwohnern und höre mir deren Ansichten an. Einbezogen werden die Bürgerinnen und Bürger auch über Bürgerbeteiligungsprojekte. So haben wir gemeinsam zum Beispiel unser städtisches Leitbild erarbeitet, das war ein Gemeinschaftserfolg von Politik und bürgerschaftlichem Engagement. Die Frage, wie man in Zukunft alle Bürgerinnen und Bürger erreichen kann, ist schwierig. Natürlich ermöglichen die so genannten sozialen Medien eine größere Reichweite als etwa vor 20 Jahren. Aber der Glaube oder die Hoffnung, alle Menschen zu erreichen, ist, glaube ich, eine Illusion. Es gibt Menschen, die kann man nicht erreichen, weil sie nicht erreicht werden wollen. Da braucht man sich nichts vormachen, an die kommt man nicht ran.

Foto Florian Göttler, Vereidigung des Oberbürgermeisters F. Hartmann

Wo sind die Herausforderungen demokratischer Beteiligung / der Partizipation? Gibt es da auch Grenzen und wo liegen diese?

Die Herausforderungen demokratischer Beteiligung bestehen meiner Ansicht nach vor allem in der Praktikabilität. Natürlich sind Entscheidungsfindungen in demokratischen Strukturen schwieriger und langwieriger als in einer Autokratie. Da sagt der Diktator: Das wird so gemacht und Punkt. Es ist natürlich gut, dass das in einer Demokratie so nicht geht. Aber ich glaube, man kann demokratische Beteiligung, wenn sie im Sinne von basisdemokratischer Beteiligung gemeint ist, auch überstrapazieren. Der Stadtrat kann ja nicht für jede Entscheidung einen Bürgerentscheid herbeiführen. Dafür gibt es schließlich die gewählten Vertreterinnen und Vertreter.

Wann setzen Sie auf Beteiligung, wann entscheiden Sie lieber allein?

Ich unterscheide hier mal zwischen Bürgerbeteiligung und Beteiligung des Stadtrats. Was den Stadtrat betrifft, ist die Antwort einfach: Die Beteiligung ist klar in der Gemeindeordnung und der Geschäftsordnung geregelt. Da ist genau festgelegt, was ich alleine entscheiden kann und soll, und was im Stadtrat oder in den Ausschüssen des Stadtrats entschieden werden soll.
Was die Bürgerbeteiligung betrifft, setzte ich vor allem dann auf Beteiligung, wenn Entscheidungen anstehen, die Menschen ganz konkret in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld betreffen. Zum Beispiel: Augustenfeld Mitte soll bebaut werden. Dann ist es nicht nur sinnvoll, sondern ich finde, dann gehört es sich auch, die Anwohner zu fragen, wie sie sich die Bebauung vorstellen. Und ich setze sehr auf Beteiligung, wenn ein Projekt ansteht, in dem sich bestimmte Menschengruppen besser auskennen als die Verwaltung oder der Stadtrat. Ein Beispiel: Ein Spielplatz soll erneuert werden. Da ist es doch sinnvoll, die Kinder aus dem nächstgelegenen Kindergarten, der nächsten Schule oder dem nächsten Hort zu fragen, welche Spielgeräte sie sich wünschen. Da sind die Kinder doch die besten Experten. Und dieses Expertentum gilt es zu nutzen. Oder zum Beispiel beim Bau des neuen Hallenbads. Da haben wir die Schwimmbadnutzer gefragt, welche Ausstattung sie sich wünschen.
Lieber allein entscheide ich, wenn etwas schnell gemacht werden muss. Ein Beispiel: Brauchen wir eine Corona-Hotline bei der Stadt, mit der wir den Menschen bei der Impf-Registrierung helfen können, die bei der 116117 nicht durchkommen? Da warte ich nicht darauf, das in der nächsten Stadtratssitzung in ein paar Wochen zu diskutieren, da sage ich: Das wird jetzt sofort gemacht, weil es den Menschen hilft.

Foto Florian Göttler, Oberbürgermeister F. Hartmann bei der Bürgerbeteiligung am Bahnhof Dachau im Juli 2017

Was würden Sie anderen Bürgermeister:innen mit auf den Weg geben?

Das ist eine ganz schwierige Frage. Jeder Bürgermeister hat seinen eigenen Stil. Da fände ich es fast ein bisschen anmaßend, belehrend zu sagen: Du musst dich so oder so verhalten. Wichtig ist ganz allgemein, dass man für die Menschen erreichbar bleibt und ein ehrlich offenes Ohr für ihre Anliegen hat.

Wie begeistern Sie die Menschen für demokratische Werte?

Da fallen mir zum Beispiel meine Reden zum jährlichen Volkstrauertag ein. Das ist freilich immer eine andere, aber ein Teil bleibt immer gleich. Nämlich die Passage, in der es darum geht, dass wir hier in Deutschland seit 76 Jahren in Frieden leben. Da muss ich nur jedes Jahr die Zahl austauschen. Was heißt muss? Da darf ich jedes Jahr die Zahl um eins erhöhen. Das ist ein riesiges Privileg und es ist eine phantastische Errungenschaft, dass wir schon so eine lange Zeit in Frieden leben. Keine Autokratie und keine Diktatur hat das jemals geschafft! Das begeistert mich, und ich hoffe, dass das auch andere begeistert. Außerdem finde ich, dass man nur in viele andere Länder schauen muss, um sich für demokratische Werte zu begeistern. In Weißrussland und Hongkong gingen Hunderttausende auf die Straße für die Demokratie. Die Menschen in Myanmar kämpfen friedlich und verzweifelt gegen die Abschaffung der Demokratie. In Russland versucht der Geheimdienst den Oppositionsführer zu vergiften. Und der kehrt nach seiner Genesung zurück in sein Land, wohl wissend, dass sie ihn dort wahrscheinlich ins Arbeitslager stecken. Wenn Menschen so leidenschaftlich für die Demokratie kämpfen, dann muss sie doch etwas wert sein. Wenn wir also in solche Länder blicken und auf den Mut der dortigen Demokratiebewegungen: Welcher Demokrat kann sich dann nicht für unsere demokratischen Werte begeistern?

Wenn es ein allgemeines Demokratisches Manifest für Kommunen geben würde, welche drei Punkte unbedingt sollten enthalten sein? Was sollte auf keinem Fall drinstehen?

Auf jeden Fall drinstehen sollte: Das Bekenntnis, niemals mit der Erinnerung und dem Gedenken an die Opfer des Konzentrationslagers Dachau aufzuhören.
Das Bekenntnis, sich als gewählter Entscheidungsträger für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen einzusetzen, egal welcher Herkunft sie sind, welcher Religion sie angehören, welche Hautfarbe und welche sexuelle Orientierung sie haben. Und der Mut, sich als Demokrat aktiv gegen Extremismus, Menschenverachtung und Hass einzusetzen und menschenverachtenden Parolen laut zu widersprechen.
Auf keinen Fall drinstehen sollten Formulierungen, die andeuten, dass die Mehrheit das Recht hat, alles Mögliche zu tun. Wie gesagt: Demokratie braucht Regeln. Auch in einer Demokratie darf Macht nicht regel- und grenzenlos sein.

Zusammenfassend: Was ist Ihr Statement zur Demokratie und Partizipation?

Demokratie ist die einzige Staatsform, die unsere Grundrechte und Freiheiten und den Frieden ermöglicht und sichert. Deswegen ist es Verpflichtung und Ehre zugleich, sich vehement für sie einzusetzen.