Hallo Frau Steeb, könnten Sie sich bitte in ein paar Sätzen kurz vorstellen:

Ich bin Karla, 19 Jahre alt, momentan arbeite ich als Ehrenamtliche an der evangelischen Versöhnungskirche in Dachau. Zusätzlich studiere ich Philosophie an der Hochschule für Philosophie München.

Wo und wann haben Sie persönlich das erste Mal bewusst Demokratie erlebt?

Dass wir in Deutschland in einer Demokratie leben, habe ich, soweit ich denken kann schon immer irgendwie gewusst. Was das wirklich bedeutet, damit bin ich das erste Mal im  Rahmen meiner Schulzeit, zum Beispiel im Politik-Unterricht, in Berührung gekommen. Damals haben wir Aristoteles Theorie zu politischen Systemen behandelt und dann war Demokratie plötzlich nicht mehr eine Staatsform, in welcher alle Menschen im Gemeinwohl zusammenleben, sondern eine, die vom Eigennutz bestimmt wird, gefolgt von der Oligarchie und Tyrannis. Durch diese Umkehrung dessen, was mir zuvor immer über Demokratie beigebracht wurde, kam ich dazu, mich zu fragen, was es denn ist, was wir unter unserer Demokratie verstehen. Ich kann nicht sagen, ob es das erste Mal war, dass ich bewusst über unsere Demokratie nachgedacht habe, aber an diesen Moment erinnere ich mich noch lebhaft. Zu einem eindeutigen Ergebnis hat diese Überlegung allerdings nicht geführt.
Aber auch außerhalb des Unterrichts war meine Schulzeit von Politik geprägt. Wenn man darüber nachdenkt, dann ist Schule selbst eine Miniaturform eines politischen Systems. Ob es sich um eine Demokratie handelt, lässt sich allerdings nicht so genau sagen, schließlich sitzt an der Spitze des Systems ein Alleinherrscher, seit vielen Jahren schon, niemand der Schüler hat ihn gewählt oder erinnert sich daran, wie er dort hingekommen ist. Absetzen könnte man ihn auch nicht, denn er wurde von einer höheren Instanz berufen. Als Bittsteller muss der Schüler häufig den Weg über vertraute dieses Herrschers suchen, beispielsweise das Sekretariat, Oberstufenberater oder andere Lehrer. Trotzdem hat dieses System auch demokratische Aspekte, die Schülervertretung. Klassensprecher wurden schon seit der ersten Klasse gewählt und diejenigen, die das Amt übernahmen, waren teil eines demokratischen Prozesses. Da diese Erfahrung noch weit vor der Zeit lag, in der ich an Demonstrationen teilgenommen habe oder wählen durfte, würde ich das als mein erstes bewusstes Erleben von Demokratie bezeichnen.

Was motiviert Sie, sich für mehr demokratische Beteiligung einzusetzen?

Meiner Meinung nach ist demokratische Beteiligung ganz grundsätzlich die Voraussetzung dafür, dass eine Demokratie als Demokratie funktioniert. Zum einen natürlich bei Wahlen, aber auch bei politischem Engagement welches darüber hinaus geht. Denn was wir gerade erleben, ist, dass durch Wahlen zwar Abgeordnete gewählt werden, aber nicht Repräsentanten (siehe Frage 3). Dadurch ist es wichtig, dass Gruppen, welche in diesen Wahlen unterrepräsentiert sind, sich darüber hinaus, beispielsweise bei Demonstrationen, Gesprächen mit Abgeordneten oder an anderen Orten des öffentlichen Lebens für sich einsetzen können und dass sie darüber hinaus nicht alleine stehen. Demokratie lebt von Solidarität und dem Eingeständnis eines jeden Einzelnen zu sagen: Von diesem Problem bin ich persönlich nicht betroffen, aber ich verstehe, dass andere es sind, deshalb setze ich mich dafür ein.

Was bedeutet für Sie Demokratie? Wie definieren Sie Demokratie?

Alleine von dem Wort Demokratie lässt sich die ursprüngliche Definition von Demokratie ableiten. "Die Herrschaft des Volkes". Daraus folgt für mich, dass in einer Demokratie alle Gruppen vertreten werden sollten, alle Stimmen gehört werden sollten. Da es nur sehr schwer umsetzbar ist, dass tatsächlich jeder aktiv, das heißt auch aktiv außerhalb der Wahlen und Volksbegehren, in der Demokratie mitwirken kann, ist es umso wichtiger, dass die Repräsentanten, die gewählt werden, wirklich für die ganze Bevölkerung sprechen, in gleichen Teilen und ihre Interessen vertreten. Sodass es sich wirklich um die Herrschaft des Volkes und nicht nur um die Herrschaft einer Gruppe dieses Volkes handelt. Dass das momentan nicht der Fall ist, erkennt man daran, dass die Gruppe der weißen, männlichen Juristen im Bundestag die zahlenmäßig größte Gruppe ausmacht. Dass das nicht proportional mit ihrer Anzahl in der übrigen Bevölkerung übereinstimmt, ist leicht zu erkennen.
Die Voraussetzung dafür, dass trotzdem in gewisser Weise andere Gruppen zu Wort kommen und ihre Stimmen gehört werden, ist eine gute Debattenkultur. Das bedeutet dass auch einfache Leute, ohne ein direktes Staatsamt, sich beispielsweise bei Demonstrationen oder auf andere Weise im öffentlichen Raum äußern können und diese Themen und Debatten dann in das politische Leben weitergetragen werden. Eine gute Debattenkultur ist natürlich auch innerhalb des Staatsapparates Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, häufig müssen Mehrheiten erst gefunden werden oder Kompromisse beschlossen werden, wenn sich eine solche Mehrheit nicht findet. Dafür braucht es die Debatte.

Welche Ziele verfolgen Sie mit ihrem Freiwilligendienst / Ehrenamt? Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Mein Entscheidungsprozess für mein Ehrenamt war stark beeinflusst von der Coronapandemie. Mein Handlungsspielraum war in dem Sinne stark eingeschränkt, da ich mich ursprünglich für einen Freiwilligendienst am Moskauer Holocaustzentrum entschieden hatte und dieser daraufhin nicht möglich war. Trotzdem habe ich mich aktiv für die Arbeit an der Versöhnungskirche entschieden, da ich das Gefühl hatte hier ein aktiver Teil von Erinnerungsarbeit zu sein. In der Frage zuvor habe ich angesprochen, dass es für eine gut funktionierende Demokratie eine gute Debattenkultur braucht. Im Prinzip könnte man sagen, dass ich mit meiner Arbeit vor allem Versuche, Debatten anzuregen, das heißt Themen anzusprechen und weiterzutragen. Beispielsweise habe ich mich auf meinem Blog, aber auch auf dem Youtube-Kanal mit den Häftlingsgruppen der sogenannten "Asozialen" und "Berufsverbrecher" beschäftigt. Ich bin nicht die erste Person, die dieses Thema anspricht, aber dennoch bin ich der Meinung, dass diese beiden Häftlingsgruppen verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit bekommen. Ich versuche also vor allem Menschen mit diesem Thema in Kontakt zu bringen und damit im Prinzip eine Debatte anzuregen. Denn die Voraussetzung dafür, dass Debatten entstehen können, ist vor allem, dass Informationen über die Themen vorhanden sind.

Haben Sie das Gefühl, etwas bewegen zu können? Woran merken Sie das?

Da ich momentan hauptsächlich online zu Themen gearbeitet habe, das heißt auf meinem Blog und auf dem Youtube-Kanal der Versöhnungskirche, ist es besonders schwer, selbst mitzubekommen, was meine Arbeit bewirkt. Einige Rückmeldungen, vor allem von Freunden, habe ich aber bekommen, häufig ging es dabei darum, dass es sich dabei für sie um ein neues Thema gehandelt habe, sie es aber sehr interessant fanden. Das ist eine relativ simple Rückmeldung, aber eigentlich handelt es sich dabei genau um das, was ich erreichen möchte.
Natürlich hoffe ich aber darauf auch in den nächsten Monaten, beispielsweise bei der Internationalen Jugendbegegnung, bei welcher in Teamerin sein werde, aber auch bei eigenen Rundgängen noch mehr solche Rückmeldungen zu bekommen.

Frau K. Steeb (Quelle: Privat)

Wie wirkt sich Ihr Freiwilligendienst auf unsere Demokratie aus?

Um ehrlich zu sein habe ich während meiner Arbeit selbst nur selten im Blick, was diese oder jene Tätigkeit zu unserer Demokratie beiträgt. Meistens versuche ich nur neue Themen einzubringen, Menschen zu erreichen und vor allem selbst etwas dabei zu lernen.
Ich denke die Tatsache, dass es einen Freiwilligendienst an der Versöhnungskirche gibt, ist selbst schon ein Beitrag zu unserer Demokratie. Das liegt vor allem daran, dass es normalerweise Freiwillige aus aller Welt sind, welche an der Versöhnungskirche jeweils für ein Jahr arbeiten. Das alleine ist meiner Meinung nach ein wertvoller Beitrag, denn diese Freiwilligen prägen natürlich durch ihre internationale Perspektiven die Arbeit, was diese diverser macht. Dabei möchte ich vor allem den Fokus auf die Debattenkultur legen, welche ich zuvor schon angesprochen habe und welche dadurch gewinnt.
Da ich dieses Jahr quasi die "Ersatzfreiwillige" bin, versuche ich, diese Diversität der Themen in meiner Arbeit zu erhalten. Ich bin mir aber natürlich bewusst, dass mein Einflussbereich relativ klein ist, trotzdem versuche ich das beste daraus zu machen.

Wie können Freiwilligendienste / Ehrenämter demokratischer gestaltet werden?

Ich denke dass das große Problem mit Freiwilligendiensten und Ehrenämtern immer noch ist, dass man diese nur belegen kann, wenn man es sich "leisten" kann. Damit meine ich, dass es häufig Menschen sind, die aus einem wohlhabenden Haushalt kommen, die es sich leisten können, für ein Jahr einen Freiwilligendienst zu machen, anstatt direkt zu arbeiten, oder die ihre Arbeit teilweise zurückstellen können, um ein Ehrenamt ausüben zu können. In diesem Sinne finde ich, dass Freiwilligendienste und Ehrenämter demokratischer gestaltet werden können, indem sie diverser werden und auch Diversität fördern.

Was können Sie anderen (jungen) Menschen, die sich für die Demokratie engagieren möchten mit auf den Weg geben?

Was ich anderen jungen Menschen, die sich für Demokratie engagieren möchten auf jeden Fall mit auf den Weg geben kann, ist, sich selbst auszuprobieren. Ich habe beispielsweise schon länger den Plan gehabt einen Blog anzufangen, aber damit immer ein wenig gehadert. Inzwischen kann ich sagen, dass das eine gute Idee war und mir auch Spaß macht, dass es aber auch nicht schlimm gewesen wäre, wenn das nicht der Fall gewesen wäre. Wenn ich aber gar nicht erst ausprobiert hätte, dann wüsste ich das heute nicht.
Etwas anderes, was mir selbst auch geholfen hat, ist, mir Vorbilder zu suchen. Damit meine ich nicht, dass man anderen Menschen, die in irgendeiner Weise Autorität haben blind hinterher rennt, sondern dass man, wenn man Themen hat, die einen interessieren und mit denen man arbeiten möchte, aber auch bei Berufen die einen interessieren, schaut: Wer hat vielleicht etwas ähnliches gemacht und vor allem, was finde ich gut?

Wie begeistern Sie Menschen für demokratische Werte? Wie fördern Sie Partizipation?

Wie auch schon bei der Frage, wie sich mein Freiwilligendienst auf Demokratie auswirkt finde ich auch diese Frage recht schwer zu beantworten. Mir ist es bisher noch nicht passiert, dass jemand auf mich zugekommen ist und gesagt hat: Du hast mich so sehr inspiriert, dass ich mein Leben umkremple und mich politisch engagiere. Ich denke auch, dass ich es mir sehr schwer machen würde, wenn ich solche Rückmeldungen als Maßstab für meine Arbeit setzen würde. Meiner Überzeugung nach ist die Beschäftigung und damit auch ein Verständnis für demokratische Werte ein Prozess. Und dass man einen Antidemokraten für demokratische Werte begeistert, geschieht sicherlich auch nicht innerhalb eines Tages. Dementsprechend glaube ich auch, dass es sich nur sehr schwer messen lässt, ob man mit einem Text oder einer Veranstaltung jemanden für demokratische Werte begeistert hat, weil es sich meiner Meinung nach um ein Zusammenspiel von verschiedenen Erfahrungen handelt.

Wenn es ein allgemeines Demokratisches Manifest geben würde, welche drei Punkte sollten unbedingt enthalten sein und was sollte auf keinem Fall drinstehen?

Es gibt natürlich noch mehr Punkte, die eine gute Demokratie ausmachen und auch klare Kriterien, wie Staatssysteme einzuordnen sind. Besonders wichtig für mich sind aber die Punkte, welche ich auch bei den anderen Fragen schon angesprochen habe: Das ist zum einen eine gute Debattenkultur, Experten in der Politik, das heißt Menschen aus allen Fachbereichen die somit auch die Vielfalt der Bevölkerung widerspiegeln und machbare Volksbegehren, sodass sich die Bevölkerung auch außerhalb der Wahlen auf diese Weise in die Politik einbringen kann.
Was meiner Meinung nach auf keinen Fall in eine gute Demokratie gehört sind zum einen Lobbyismus und eine freie Marktwirtschaft, da bei beidem, wenn auch auf unterschiedliche Weise, Unternehmen gefördert werden, die sowieso schon mächtig sind. Zum anderen bin ich auch gegen eine festgelegte Leitkultur, welche somit wiederum einzelne Bevölkerungsgruppen bevorteilt und somit andere benachteiligt.

Zusammenfassend: Was ist Ihr Statement zur Demokratie und Partizipation?

Ich halte Mitbestimmung für einen Grundpfeiler einer guten Demokratie, gleichzeitig bin ich der Meinung, dass es dabei nicht reicht, freie Wahlen zu veranstalten, sondern dass Mitbestimmung aktiv gefördert werden muss.